Bug des Monats November 2024 - Dr. Mridul Agrawal

„Patientinnen und Patienten erfahren häufig nur durch Zufall von einer klinischen Studie, die für sie geeignet ist“

© Dustin Chambers

Für Krebspatient:innen und die allermeisten ärztlichen Kolleg:innen ist es schwer, sich einen Überblick über die aktuelle Studienlage zu verschaffen, sagt Dr. Mridul Agrawal, Geschäftsführer und Mitgründer des Rechercheportals iuvando. Im Interview erklärt er, welche Rolle Algorithmen und KI beim Matching von Krebspatient:innen mit geeigneten Studien spielen, wie die elektronische Patientenakte bei der Suche helfen würde – und wie das Unternehmen die für Patient:innen kostenlose Recherche und Beratung finanziert.

Herr Dr. Agrawal, was ist Ihr persönlicher Bug des Monats? Auf welches größere Hindernis bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind Sie persönlich zuletzt gestoßen?

Es ist kein neues Problem, aber ein großes, das weiterhin besteht: Nämlich, dass Gesundheitsinformationen häufig nicht zeit- und richtungsgleich weitergegeben werden können an Patientinnen und Patienten oder an andere behandelnde Kolleginnen und Kollegen. Was ich in meiner ärztlichen Tätigkeit früher immer wieder erlebt habe: Man ist in der Notaufnahme, nimmt einen Patienten auf, der nicht ansprechbar ist und muss sich klinisch schnell ein Bild machen. Oft läuft es dann darauf hinaus, dass man Angehörige oder ärztliche Kolleginnen und Kollegen anrufen muss, um eine Medikamentenliste zu bekommen und Vorerkrankungen zu erfassen. Wenn man dieses Problem der mangelnden Datenverfügbarkeit lösen würde, hätte das einen sehr großen Impact. Ich hoffe sehr, dass sich das ab dem kommenden Jahr mit der elektronischen Patientenakte (ePA) ändert. Das würde auch unsere Arbeit bei iuvando sehr erleichtern.

iuvando ist ein Rechercheportal für Krebspatient:innen, die sich über neue Therapien in klinischen Studien informieren möchten. Wie würde es die Arbeit von iuvando erleichtern, wenn die Daten besser verfügbar wären?

Wir haben eine Datenbank mit den Informationen zu laufenden klinischen Studien aufgebaut, zunächst für Deutschland. Wir greifen dabei auf öffentlich verfügbare Quellen zurück und arbeiten darüber hinaus eng mit der forschenden Arzneimittelindustrie sowie akademischen Studiengruppen zusammen, sodass wir über eine möglichst vollständige Übersicht über die aktuelle Studienlandschaft für unsere Recherchen verfügen. Was die Patientendaten betrifft, kommt es häufiger vor, dass die Informationen unvollständig sind. Das liegt unter anderem daran, dass Krebspatientinnen und -patienten im Schnitt drei bis fünf mitbehandelnde Ärztinnen und Ärzte aus den verschiedensten Fachrichtungen von Allgemeinmedizin, über Radiologie, Strahlentherapie, Pathologie bis zur Onkologie haben, sodass oftmals wichtige Informationen nicht zusammengeführt werden. Dies würde durch die ePA wesentlich vereinfacht.

Wie gelangen Sie an die fehlenden Informationen?

Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder bitten wir die Patienten darum, uns noch spezifische Informationen nachzureichen oder wir gehen auf die Behandler zu und fragen auf Patientenwunsch fehlende Befunde an.

Was würde Ihnen bei dieser Suche nach Informationen helfen?

Was das Technische angeht, wäre ich schon sehr zufrieden, wenn wir künftig die Informationen in der ePA zentral vorliegen hätten. Darüber hinaus würde ich mir wünschen, dass sich etwas in Sachen Health Literacy – also bei der Gesundheitskompetenz – in der Gesamtbevölkerung tut. Ich kann nicht erwarten, dass Patienten zu Fachexperten ihrer Erkrankung werden. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie können und müssen nicht in der Lage sein, verschiedene Therapiemöglichkeiten auf Grundlage wissenschaftlicher Ergebnisse zu beurteilen. Es ist jedoch wichtig, dass sich Patientinnen und Patienten ausreichend über ihre Erkrankung informieren können, auch um besser zu verstehen was unterschiedliche Behandlungen für sie jeweils bedeuten würden.

Warum ist das so wichtig?

Informationen können dabei helfen, dass man sich seiner Präferenzen und Bedürfnisse in einer bestimmten Situation bewusst wird. Und diese kann und sollte man dann im ärztlichen Gespräch äußern, sodass sie in die Entscheidungsfindung einfließen können. Denn wenn man als Arzt Shared-Decision-Making ernst nimmt, muss man sagen: Ich alleine kann für Sie keine Entscheidung treffen, aber ich kann Sie fachlich beraten und Sie bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung unterstützen. Dafür muss man jedoch die Präferenzen und Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten kennen. Und dabei geht es dann oft um Fragen wie: Was heißt das ganz konkret für mich im Alltag, wenn ich mich für die eine oder andere Therapie entscheide? Heißt es, dass ich zum Beispiel einmal die Woche zum Blut abnehmen gehen muss oder nur einmal im Monat? Wie häufig erhalte ich eine Infusion, etc.?

In Zukunft werden wir nicht nur über immer mehr Informationen zu unterschiedlichen Erkrankungen verfügen, sondern auch über Gesundheit. Und da würde es auch allgemein sehr helfen, wenn jede und jeder ein gewisses Grundverständnis im Bereich Gesundheit für sich selbst entwickelt. Das könnte dann letztlich vielleicht sogar zu mehr Prävention beitragen.

Ist dieser Grundgedanke, den Patienten stärker einzubeziehen auch der Grund dafür, dass Sie sich mit Ihrem Angebot an die Patienten richten und nicht direkt an die Behandler?

Wir empfehlen Patienten ausdrücklich ihr behandelndes Ärzteteam in die Studienrecherche und anschließende Entscheidungsfindung eng einzubinden. Allerdings sind wir überzeugt davon, dass man den größten Nutzen dann erzielt, wenn diejenigen, die unmittelbar von einer Krebserkrankung betroffen sind – also die Patientinnen und Patienten, sowie ihr privates Umfeld – selbst etwas tun können. Für uns ist das gelebtes Patient Empowerment.

Es geht ja ausdrücklich nicht darum, dass sich eine Patientin oder ein Patient selbst die passende Studie heraussucht, sondern dass sie oder er diese Suche eigeninitiativ anstößt. Wir ermöglichen es Patienten zum Hörer zu greifen oder über unser digitales Kontaktformular niederschwellig aktiv zu werden. Unsere Arbeit trägt somit dazu bei, dass Patientinnen und Patienten ihr Behandlungsspektrum erweitern können, denn es ist für die allermeisten ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sehr schwierig, einen Überblick über alle aktuellen Studien zu behalten.

iuvando ist in Deutschland gestartet, in welchen Ländern sind Sie darüber hinaus schon aktiv?

Unser Angebot gibt es inzwischen auch für Patienten in Österreich, der Schweiz und seit Kurzem auch in den Benelux-Ländern. Die überwiegende Anzahl der Patientinnen und Patienten kommt jedoch aus Deutschland, hierzulande gibt es innerhalb der EU auch die meisten Therapiestudien im Bereich der Onkologie. Ab dem kommenden Jahr werden wir unseren Service auch Patientinnen und Patienten in den USA anbieten.

Nach welchen Kriterien nehmen Sie Studien in Ihre Suchdatenbank auf?

Wir beschränken uns auf Therapiestudien. Die wichtigste Quelle für unsere Arbeit ist das Portal clinicaltrials.gov vom amerikanischen National Institutes of Health (NIH), das ist die größte Studiendatenbank der Welt.

Für die meisten Patienten resultieren mehrere Behandlungsmöglichkeiten aus unserer Studienrecherche. Manchmal gibt es auch bereits öffentlich publizierte Vordaten zu laufenden Studien, zum Beispiel von Fachkongressen, diese bereiten wir auf und teilen sie über unsere Webseite oder Social Media, um ein fundiertes und hochwertiges Informationsangebot bereitzustellen.

Unsere personalisierte Studienübersicht, die Patienten erhalten, enthält auch einen ausführlichen Appendix. Darin benennen wir den Grund für jede Studie, die wir ausgeschlossen haben. Auf diese Weise bleibt unsere Arbeit für Patienten und ihr ärztliches Behandlungsteam besser nachvollziehbar.

Welche Rolle spielt die Technik – also Algorithmen oder KI – dabei, die passenden Studien für die einzelnen Patienten zu finden?

Ohne den Einsatz von Software wäre unsere Arbeit bei der großen Zahl an Patientenanfragen und der vielen Studien nicht machbar. Unsere Software sortiert die Studienvorschläge vor. Dann prüfen unsere Ärztinnen und Ärzte, ob die Studien tatsächlich passen. Wenn sie das jedes Mal für die 60 bis 80 Prüfkriterien für alle 800 Studien machen müssten, wäre das zeitlich nicht möglich. Dank der Technologie bleibt unserem Ärzteteam die Zeit, intensiv mit den Patienten zu sprechen. Nachdem Patientinnen und Patienten unsere persönliche Studienübersicht erhalten, gibt es nämlich immer ein ärztliches Beratungsgespräch, hier gehen wir gemeinsam mit den Patienten den Report durch.

Wir erklären den Patienten dabei auch, dass es keine 100-prozentige Garantie dafür gibt, in die jeweiligen Therapiestudien aufgenommen zu werden. Es kann beispielsweise passieren, dass am Tag des sogenannten Screenings am Studienzentrum die Nierenfunktion schlechter ist als sonst und somit der Schwellenwert überschritten wird. Es kann auch sein, dass bestimmte genetische Untersuchungen erst beim Screening stattfinden. Wenn der genetische Biomarker dann nicht passt, kann es ebenfalls ein Grund dafür sein, dass man nicht für die Studie geeignet ist.

Wie stellen Sie sicher, dass die Patienten tatsächlich zu den Studien passen?

Intern führen wir ärztliche Fallkonferenzen durch, bei denen wir im Kollegenkreis die Fälle besprechen. Es gibt aber auch eine externe Erfolgskontrolle durch das Studienzentrum, welches die Patientinnen und Patienten im Rahmen der für die Studienteilnahme zwingend erforderlichen Voruntersuchungen weiterbetreut.  

Wie erfolgreich ist das Matching von iuvando? Wie viele derjenigen, die Sie an ein Studienzentrum vermitteln, sind nachher tatsächlich geeignet für die jeweilige Studie?

Unser Matching ist äußerst präzise und führt dazu, dass der überwiegende Großteil der Patientinnen und Patienten, die wir an Studienzentren vermitteln, die formalen Einschlusskriterien für die jeweilige Studie erfüllt. Allerdings hängt die tatsächliche Studienteilnahme von weiteren Faktoren ab. Am Studienzentrum durchlaufen die Patientinnen und Patienten einen strengen Aufklärungsprozess, der den Standards der Good Clinical Practice (GCP) entspricht. Dazu zählen intensive Beratungsgespräche über Risiken, Nebenwirkungen und die Anforderungen der Studie durch das Studienärzteteam. Selbst wenn die formalen Voraussetzungen erfüllt sind, gibt es persönliche Gründe, die zu einer Entscheidung gegen die Teilnahme führen können – beispielsweise, wenn der organisatorische Aufwand als zu hoch empfunden wird.

Woran messen Sie bei iuvando Ihren Erfolg?

Wir wollen den Zugang zu neuen Therapieverfahren in klinischen Studien für Krebspatientinnen und Krebspatienten demokratisieren. Sprich: Patientinnen und Patienten sollen sich unabhängig vom Ort ihrer Behandlung über die neuesten Behandlungsmöglichkeiten für die eigene Erkrankung informieren können. Denn bisher ist es so, dass Patientinnen und Patienten häufig nur durch Zufall von einer klinischen Studie erfahren, die für sie geeignet ist – und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern beispielsweise auch für die USA. Die Patienten sollen aber nicht nur von der einen Studie erfahren, die an dem einen Zentrum läuft, an dem sie behandelt werden – sondern auch von den anderen Optionen in der Nähe, die möglicherweise für sie passend sind.

Also geht es Ihnen vor allem um die Zugänglichkeit?

Ja, genau. Und der zweite Punkt ist: Ich bin als Arzt und Wissenschaftler davon überzeugt, dass eine Behandlung im Rahmen einer klinischen Studie grundsätzlich die Chance bietet, von neuen Therapieverfahren frühzeitig zu profitieren, also noch bevor sie für die Allgemeinheit verfügbar sind.

Die Studiensuche ist für Patient:innen kostenlos. Wie sieht das Geschäftsmodell von iuvando aus?

Wir finanzieren uns über die Zusammenarbeit mit den forschenden Arzneimittelunternehmen sowie Krankenversicherungen.

Erhalten Sie von den Unternehmen eine Provision pro vermitteltem Patienten?

Nein, wir arbeiten nicht auf Provisionsbasis. Eine solche Struktur könnte den Eindruck erwecken, dass wir aus finanziellen Gründen eine bestimmte Studie bevorzugen. Unsere Studienrecherche ist neutral und unabhängig von finanziellen Interessen. Stattdessen erhalten wir von den forschenden Arzneimittelunternehmen eine feste Vergütung im Rahmen langfristiger Partnerschaften für den Aufbau und Betrieb unserer Studienrechercheplattform. Diese Unternehmen haben ein starkes Interesse daran, die bestehenden Hürden für den Zugang zu klinischen Studien für Patientinnen und Patienten zu reduzieren, um die Entwicklungszeiten neuer Medikamente deutlich zu beschleunigen – ein Prozess, der derzeit oft bis zu zehn Jahre in Anspruch nimmt. Eine der größten Herausforderungen dabei bleibt die gezielte Identifikation geeigneter Patientinnen und Patienten.

Auch mit Krankenversicherungen, sowohl privaten als auch gesetzlichen, kooperieren wir über Selektivverträge. Versicherungen sehen darin Vorteile sowohl für die Versorgung der Versicherten als auch für die Reduzierung von Kosten. Wenn ein Patient an einer Studie teilnimmt, übernimmt der Hersteller einen Großteil der Kosten, die sonst von der Krankenversicherung getragen würden – ein klarer Mehrwert für die Solidargemeinschaft.

Was wollen Sie langfristig mit iuvando erreichen?

Bisher haben wir Patientenanfragen im fünfstelligen Bereich in Deutschland bearbeitet und dadurch schon sehr vielen Patientinnen und Patienten neue Therapiemöglichkeiten in klinischen Studien aufgezeigt, die ihnen ohne unsere Suche verborgen geblieben wären. Diese Hilfestellung in einer besonders kritischen Lebenssituation leisten zu dürfen, ist ein besonderes Privileg und treibt uns an. Angesichts der 500.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland neu an Krebs erkranken, ist es allerdings noch ein weiter Weg bis unsere Vision wahr wird, nämlich, dass sich jede Patientin und jeder Patient mit einer Krebserkrankung individuell über passende klinische Studien informieren kann, um die bestmögliche Therapie zu erhalten.

Das Interview führte: Hendrik Bensch

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